HOAI-Urteil des EuGH hat keine Auswirkungen auf abgeschlossene Verträge

26.07.2019

Unwirksamkeit der HOAI – keine Anwendung auf Altfälle

Das Urteil des EuGH hat für Verträge, die vor seiner Rechtskraft geschlossen wurden, keine Auswirkungen

Der EuGH hat in einem Vertragsverletzungsverfahren festgestellt, dass die Bundesrepublik Deutschland gegen Art. 15 Abs. 1 Abs. 2g und Abs. 3 der Dienstleistungsrichtlinie (Richtlinie 2006/1423/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 12.12.2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (Dienstleistungsrichtlinie) dadurch verstoßen hat, dass sie verbindliche Honorare für die Planungsleistungen von Architekten und Ingenieuren beibehalten hat.

EuGH, Urteil vom 04.07.2019, C-377/17

Die Entscheidung ist zwar keine Sensation, denn die Europarechtskonformität der HOAI ist bereits seit langem umstritten. Zuletzt hatte sich der Generalanwalt beim EuGH in diesem Sinne ausgesprochen. Über die Konsequenzen dieser Entscheidung insbesondere für bereits geschlossene Verträge ist innerhalb von Rechtsprechung und Rechtswissenschaft sowie auch in der Praxis alsbald eine Diskussion entbrannt. Klar ist lediglich, dass seit dem Urteil die europarechtswidrigen Teile der HOAI zukünftig abzuändern sind. Hinsichtlich abgeschlossener Verträge meint die eine Fraktion, dass auch ein Zivilrichter ab sofort gezwungen sei, die HOAI außer Acht zu lassen. Mache daher ein Architekt oder Ingenieur auf der Basis der HOAI-Mindestsätze ein Honorar geltend, das über das vereinbarte Honorar hinausgehe, müsse der Zivilrichter die HOAI unangewendet lassen und die Klage abweisen. Andere sind dagegen der Ansicht, dass das Urteil des EuGH einen bloß feststellenden Charakter habe und nur  für die Zukunft wirke. Jede Seite findet und zitiert Judikate des europäischen Gerichtshofs für ihre jeweilige Ansicht. Die Argumente gehen wild durcheinander. Es wird von der Pflicht der Gerichte, die Beachtung des EuGH-Urteils sicherzustellen, gesprochen, vom Anwendungsvorrang des Europarechts, von der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien und horizontaler Direktwirkung. Häufig wird nicht hinreichend klar zwischen der Wirkung des Europarechts einerseits im sogenannten Über- und Unterordnungsverhältnis (vertikales Verhältnis) und andererseits im horizontalen Verhältnis bei (gleichrangigen) Vertragsverhältnissen unterschieden.

Die richtige Erkenntnis, dass nach der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 260 AEUV (früher Art. 228 EGV) ein Urteil für alle staatlichen Institutionen, also auch Gerichte, „verbindlich“ ist, ist nicht hinreichend für die Schlussfolgerung, die HOAI habe auf bestehende Vertragsverhältnisse keine Auswirkungen mehr. In einem Grundsatzurteil von 1982 (Waterkeyn) hatte der EuGH eher vage formuliert: „(…) so hat der nationale Richter aufgrund der verbindlichen Wirkung, die dem Urteil des Gerichtshofs zukommt, gegebenenfalls den darin festgelegten rechtlichen Kriterien Rechnung zu tragen, um die Tragweite der von ihm anzuwendenden Vorschriften des Gemeinschaftsrechts zu bestimmen.“  Ein klares Votum für die Pflicht des Richters zur Nichtbeachtung einer nationalen Norm, die gegen eine Richtlinie verstößt, sieht anders aus.

Dementsprechend und zu Recht kommt es zur Bestimmung der Wirkung einer Richtlinie darauf an, um welche konkrete Fallkonstellation es geht. Die unmittelbare Wirkung hat drei allgemein anerkannte Hürden zu überwinden: erstens muss die Umsetzungsfrist abgelaufen sein, zweitens muss die anzuwendende Richtlinienbestimmung selbst inhaltlich unbedingt und hinreichend genau gefasst sein und drittens darf eine Richtlinie nicht unmittelbar zur Begründung von Pflichten von Privatpersonen herangezogen werden.

(Allgemein hierzu siehe Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, AEUV Art. 288 Rn. 107 ff.)

Die ersten beiden Hürden überspringt die Dienstleistungsrichtlinie. Die Umsetzungsfrist ist abgelaufen und der EuGH hat bereits entschieden, dass Art. 15 unmittelbare Wirkung entfaltet. Problematisch ist die dritte Hürde, soweit privatrechtliche Verträge betroffen sind. Diese Fallgruppe ist vom EuGH zunehmend deutlicher konturiert worden. Es gibt schon seit 1994 eindeutige EuGH-Urteile, in denen eine horizontale Wirkung zwischen Privaten überzeugend zurückgewiesen und damit die Reichweite der unmittelbare Wirkung von Richtlinien für das Privatrecht eingeschränkt wurde. Danach entfaltet die nationale Norm im Privatrecht so lange keine Wirkung, als sie nicht vom nationalen Gesetzgeber aufgehoben oder an das gültige Gemeinschaftsrecht angepasst wurde. Die wenigen Ausnahmefälle sind im HOAI-Bereich nicht einschlägig.

Die Angelpunkte, an der die unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Privatrecht beurteilt werden muss, lauten Richterrecht, richtlinienkonforme Auslegung, Auslegungsgrenze contra legem, Vertrauensschutz und Rückwirkung.

An dieser Stelle muss die Nennung von zwei wesentlichen Gerechtigkeitsaspekte ausreichend sein.

  1. Die Einräumung von subjektiven, d. h. durchsetzbaren Rechten für Privatpersonen dient der Durchsetzbarkeit des Gemeinschaftsrechts und findet von dort aus auch seine Rechtfertigung. Pflichten für einzelne darf das Gemeinschaftsrecht deshalb grundsätzlich nicht anordnen. Im Vertragsrecht ist des Einen Lust häufig aber des Anderen Last, d. h., jedes zusätzliche Recht, dass das Europarecht der einen Vertragspartei einräumt, spiegelt sich als Pflicht der anderen Vertragspartei. Der Eingriff in ein Vertragsverhältnis (hier: durch Änderung des Honorierungsrahmens) ist immer auch eine Ausweitung von Pflichten eines Bürgers und deshalb grundsätzlich unzulässig.
  2. Das Ziel des Gemeinschaftsrechts darf nicht aus den Augen verloren werden. Das Ziel der unmittelbaren Anwendbarkeit ist, die praktische Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen. Dieses Ziel wird durch die Mindestsatzregelung der HOAI verletzt, weil sie Planer daran hindert, ihre Leistungen unterhalb der Mindestsätze anzubieten. Dieser Gemeinschaftsrechtsverstoß ist aber bereits durch den Vertragsschluss eingetreten. Er wird weder verhindert noch geheilt, wenn die HOAI auf abgeschlossene Verträge nicht mehr angewendet würde.

Im Ergebnis hat deshalb das Urteil des EuGH für Verträge, die vor seiner Rechtskraft geschlossen wurden, keine Auswirkungen.

Dr. Michael Scheffelt

Rechtsanwalt